Armin, 61:
Heute habe ich Zugang zu meinen Empfindungen

In meinem ersten Kurs von befreit leben 2017 war ich recht verschlossen. Im zweiten Kurs hat mir die Vertrautheit geholfen, mich zu öffnen. Es gibt jeweils ein Plenum mit Referat, danach reflektiert man das Thema in der Kleingruppe, beginnt zu erkennen und verstehen. Ich bin mir falscher Muster bewusst geworden. Dass ich mich selber unter Druck setze, mich anklage, beschämt bin und fürchte, dass ich nicht genüge. Früher hat das in mir gemottet, heute habe ich Zugang zu den Empfindungen und den Wortschatz, um sie zu benennen.
 
Mein Vater war übertrieben streng, fast tyrannisch. Er war oft weg, und ich war meist froh. Nach der Scheidung meiner Eltern hausten wir schon mal in einer kalten Wohnung mit dem WC ausserhalb. Einmal brachte ein Pfarrer einen Sack mit Lebensmitteln. Das war demütigend. Ich war nur bis zur vierten Klasse ein Kind.
 
Geheiratet habe ich mit 22. Man hat mir abgeraten, aber ich wusste es besser. Mit 24 und 26 wurde ich Vater, mit 32 waren wir geschieden. Du bist schuld, sagte die Ex-Frau. Ich habe es ihr geglaubt und einfach nur gekrampft. Zeitweise habe ich mehr Alimente bezahlt als abgemacht. Und sie hat mein Besuchs- und Ferienrecht sabotiert. Heute würde ich wohl darum kämpfen, aber damals stellte ich mir halt vor, wie ich bei ihr klingle, neben mir irgend ein Sozialarbeiter, der ihr klar macht, dass ich das Recht habe, meine Kinder zu sehen, und wie die Kinder dann weinen. Davor habe ich mich gescheut. Gelegentliche Briefe waren alles. Die Kinder haben sich von mir entfremdet.
 
Vor acht Jahren habe ich meinen Sohn getroffen. Zum ersten Mal seit 24 Jahren. Wir machten um vier Uhr ab und haben dann bis um zehn Uhr geredet und geredet. An meinem 60. Geburtstag trat er das erste Mal öffentlich mit mir auf. Vater und Sohn. Das war ein Highlight. Meine Tochter habe ich vor 32 Jahren das letzte Mal gesehen. Zum 33. Geburtstag habe ich ihr Blumen geschickt. Sie hat sich herzlich bedankt, aber treffen will sie mich nicht.
 
2003 habe ich Anne geheiratet. Ein grosses Geschenk. Sie hat die Kurse übrigens auch absolviert und eine starke Befreiung erlebt. Sogar ihr verkrampfter Rücken war plötzlich gelöst. Befreit leben ist ein passender Name. Ja, ich beneide die jüngeren Kursbesucher. Die sind früh auf die wichtigen Fragen aufmerksam geworden, nicht erst mit über 50.